Als Eltern bekommen wir eine unglaubliche Wachstums-Chance. Wie in wohl kaum einer anderen Beziehung halten uns Kinder unablässig den Spiegel vor Augen. Sie kennen unsere Stärken und Schwächen. Oft haben sie ein präzises Gespür für die wunden Punkte. Ohne es zu wollen, fordern sie uns immer wieder heraus.
Was die Eltern-Kind-Beziehung so besonders macht: Man kann sich ihr kaum entziehen. Natürlich gibt es Eltern, die das Weite suchen, meist sind es Väter, und so den Kontakt zu ihren Kindern vermeiden, doch selbst dann sind sie noch ein Teil der Beziehung. Von Partnerinnen und Partnern kann man sich trennen, Freundschaften beenden. Die Beziehung zu den Kindern währt ein Leben lang.
Die Verantwortung für die Beziehungsqualität liegt bei den Eltern
Ich finde es erstaunlich, dass das Potenzial, das in dieser Beziehung steckt, noch selten aktiv genutzt wird. Eltern lavieren sich durch alle möglichen Lebenslagen. Tapfer stehen sie auch die härtesten Entwicklungsschritte ihrer Kinder durch – von Wutanfällen über Schulprobleme bis hin zum ersten Liebeskummer oder Erfahrungen mit Drogen. Meiner Erfahrung nach sind sie oft jedoch reaktiv, hoffen, dass es schon irgendwie gut gehen wird und sie irgendwann aus dem Schneider sind.
Was also können Eltern tun, um die Beziehung aktiv zu gestalten? Sie können eine Haltung einnehmen, mit der sie ihren Kindern begegnen und die es ihnen ermöglicht, sie als eigenständige Wesen zu sehen. Eine solche Haltung erschließt man sich nicht von einem Tag auf den anderen, kann aber durch Bewusstheit in sie hineinwachsen. Drei Punkte sind dabei besonders relevant:
- Die Perspektive des Kindes einnehmen
- Die Gefühle des Kindes validieren
- Eigene Trigger untersuchen
1. Die Perspektive des Kindes einnehmen
Als Eltern führen wir unsere Kinder. Wir geben ihnen Orientierung und Halt. Aufgrund unserer Lebenserfahrung meinen wir oft zu wissen, was richtig und was falsch ist. Im Großen und Ganzen mag das stimmen, birgt zugleich jedoch die Gefahr, dass sich unsere Einstellungen verhärten und wir die tatsächlichen Bedürfnisse und Sichtweisen des Kindes übersehen. Ein Beispiel: Es hat 13 Grad und ich sage meinem sechsjährigen Sohn, er soll einen Pullover anziehen, wenn er draußen spielt. Er sagt, es sei zu warm für einen Pullover. Ich widerspreche – und schon sind wir in einem unfruchtbaren Dialog, in einem Machtkampf. Statt stur darauf zu beharren, dass es ist, wie ich sage, kann ich auch mit ihm erforschen, wie es sich für ihn tatsächlich anfühlt. Auch wenn ich zunächst eine andere Position habe, gehe ich davon aus, dass auch ich mich irren kann, dass mein Kälteempfinden anders ist als seins. Ich stelle mich also nicht über ihn, sondern bin neugierig und unterstütze ihn dabei, auf seine eigene Wahrnehmung zu achten. (Und ganz nebenbei: Den Pullover kann ich ja trotzdem einstecken.)
In vielen Themenfeldern – ob beim Essen, bei Schlafenszeiten, bei Spielsachen – haben Erwachsene vorgefertigte Meinungen. Hier ist ein bewusster Perspektivwechsel hilfreich. Es lohnt sich, mit Kindern gemeinsam zu untersuchen, wie sich etwas für sie anfühlt, anstatt ihre Sinneswahrnehmungen in Abrede zu stellen. Das führt uns zum zweiten Punkt einer zugewandten und unterstützenden Haltung.
2. Die Gefühle des Kindes validieren
Gefühle haben immer einen Grund. Sie können nicht falsch sein. Vor allem wollen sie nur eins: gefühlt werden. Eltern können ihr Kind sehr unterstützen, indem sie es mit seinen Gefühlen an- und ernst nehmen. Sie müssen sie sich nicht zu eigen machen. Doch wichtig ist, dass sie nicht versuchen, sie ihrem Kind auszureden. Sätze wie „Sei nicht traurig.“, „Das tut doch nicht weh.“, „Das ist nicht so schlimm.“, „Das schmeckt doch gut.“ torpedieren die Sinneswahrnehmung und die damit in Form von Gefühlen verbundene Interpretation. Bei Kindern führt das zu Verwirrung und Widerstand. Beides lässt sich vermeiden, indem Eltern zunächst anerkennen, wie es dem Kind gerade geht. Indem sie ihr Kind mit einer zugewandten, interessierten Haltung bestätigen: „Ah, die Möhren schmecken dir nicht. Wie ist es mit den Erbsen?“, „Oh, dein Bild ist zerrissen. Und jetzt bist du traurig!?“. Wenn Eltern Kindern mit so einer Haltung begegnen, fühlen diese sich gesehen und gefühlt. Das stärkt sowohl sie als auch die Beziehung und hilft, Konflikte zu vermeiden.
3. Eigene Trigger untersuchen
Bestimmte Verhaltensweisen unserer Kinder können uns auf die Palme bringen. Was es ist, ist individuell sehr unterschiedlich: Manche Eltern reagieren allergisch darauf, wenn ihre Kinder zu spät kommen, andere, wenn sie auf Durchzug schalten, wieder andere auf Trödelei oder auf nachlässigen Umgang mit Schulsachen. Wichtig ist anzuerkennen, dass in aller Regel nicht das Verhalten des Kindes das eigentliche Problem darstellt. Das kann man schon daran erkennen, dass andere Eltern mit demselben Thema ganz anders umgehen würden. Anders ist es beispielsweise, wenn ein Kind andere Kinder immer wieder schlägt oder gar verletzt. Das wäre ein Verhalten, was wohl für die meisten inakzeptabel ist.
Dass bestimmte Verhaltensweisen ihrer Kinder für Eltern schwer zu verkraften sind, hat also mehr mit ihnen selbst als mit ihren Kindern zu tun. Wenn Eltern lernen, diese Probleme zunächst zu sich zu nehmen, ist es, als ob sie ein Minenfeld räumen. Sie beginnen Verantwortung für ihre Gefühle zu übernehmen, anstatt ihren Unmut an ihren Kindern auszulassen. Dass sie so stark auf bestimmte Ereignisse reagieren, hat mit eigenen Erfahrungen und Prägungen zu tun. Wenn sie diesen auf den Grund gehen, werden sie ziemlich sicher an eigene Verletzungen kommen oder sich mit Situationen ihrer Kindheit verbinden können, in denen sie mit ihren Gefühlen nicht da sein konnten. Hier ist oft eine therapeutische Begleitung sinnvoll, denn diese lang unterdrückten Gefühle können zum einen sehr stark sein, zum anderen neigen Menschen auch dazu, ihnen immer wieder auszuweichen. In einem therapeutischen Setting kann sichergestellt werden, dass der Klient oder die Klientin auch bereit ist, das, was auftaucht, zu halten.
Sich mit diesen alten Kindheitswunden noch einmal bewusst auseinanderzusetzen, ist eine große Chance. Sowohl für die Beziehung zu ihren Kindern als auch zu sich selbst. Häufig bekommen sie so Zugang zu Anteilen, die sie einst abspalten mussten. Diese nun als erwachsener Mensch zu bergen, zu fühlen und zu integrieren, ist ein wesentlicher Schritt für mehr Lebendigkeit.
Von der Erziehung zur Beziehung
Alle drei Punkte haben gemein, dass es darum geht, eine gewisse Distanz zu sich selbst, zur eigenen Position einzunehmen. Oft identifizieren wir uns stark mit der eigenen Perspektive und den Gefühlen, die damit verbunden sind. In eine Beziehung einzutreten bedeutet, auch das Gegenüber wahrzunehmen – als gleichwertiges Wesen mit eigenen Bedürfnissen. Das heißt nicht, die eigene Position oder Perspektive aufzugeben, sondern lediglich, sie für einen Moment zurückzustellen und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Statt unsere Kinder zu erziehen, beziehen wir uns auf sie, mit Neugier, Liebe und Interesse.